VELOSTAR MARC HIRSCHI: AUF DER SUCHE NACH DEM ERSEHNTEN MAGISCHEN MOMENT

Die Tour de France 2020 hat in den Geschichtsbüchern des Radsports einen Ehrenplatz auf sicher. Weil dort zum ersten Mal das Jahrhunderttalent Tadej Pogacar triumphierte – aber auch wegen der Auftritte von Marc Hirschi.

Es gab in jenem Pandemiesommer Menschen, die in der heimischen Isolation am Fernseher sassen und zu Fans des jungen Mannes aus Ittigen wurden, selbst wenn sie sich kaum für Radsport interessierten. Dass der damals erst 22-Jährige der Tour de France magische Momente bescherte, war auch für Laien augenfällig, als er auf einem Teilstück 90 Kilometer vor dem Ziel attackierte, um stundenlang Katz und Maus mit dem Feld zu spielen, kraftvoll in den Anstiegen, wagemutig in den Abfahrten, unbeirrbar trotz sämtlichen ihn verfolgenden Stars. Hirschi verkörperte inmitten der kollektiven Covid-Depression verlorengeglaubte Emotionen: Unbeschwertheit, Lebensfreude, Aufbruchstimmung.

Dass er im letzten Moment eingeholt wurde, kümmerte ihn kaum: Vier Tage später versuchte es Hirschi schon wieder, und diesmal gelang der Etappensieg. Er erzwang sein Glück. Alles schien ihm möglich.

Kaum jemand wusste, auf welch schmalem Grat der Radprofi schon damals wandelte. Die wenigsten ahnten, wie wechselhaft die nächsten Jahre verlaufen würden. 2025 ist Hirschi der erste Teil der Saison zum wiederholten Mal völlig missglückt. An den für ihn wichtigen Ardennen-Classiques war er nicht nur chancenlos, sondern weitgehend unsichtbar.

«Es gab niemand, der mir gleichermassen vertraute»

Wenn einer das Mysterium Marc Hirschi zu entschlüsseln vermag, ist das Sebastian Deckert. Der Sportwissenschafter war bis zum Erfolgsjahr 2020 dessen Trainer im Team Sunweb, bevor Hirschi im folgenden Winter abrupt zur Equipe UAE wechselte. Seit einigen Monaten betreut ihn der Deutsche nun in der Mannschaft Tudor erneut. Hirschi sagt, Deckert sei ein wesentlicher Grund für seinen Transfer zum zweitklassigen Schweizer Kollektiv gewesen: «Es gab nach 2020 niemanden mehr, der mir gleichermassen vertraute wie Sebastian.»

Deckert ist ein freundlicher, bescheidener Mann. Er sagt am Telefon, ein solches Kompliment sei schön zu hören, er hoffe allerdings, dass Hirschi noch andere Gründe für seine Unterschrift bei Tudor gehabt habe: bei einem Team, das innovativ sei und den Fahrern langfristige Perspektiven bieten wolle.

Auf den Beginn seiner ersten Zusammenarbeit mit Hirschi angesprochen, erinnert sich der 34-Jährige an ein Talent mit «extremem Potenzial», dem es aber an der notwendigen Grundlagenausdauer fehlte, weil es zuvor schlicht zu wenige Stunden auf dem Velo gesessen hatte. Er habe Hirschi viele vergleichsweise lockere Trainingsstunden verordnet und zudem an dessen Ernährung gefeilt, weil der Fahrer oft in der letzten Rennstunde Energietiefs erlitten habe.

Dem Duo hätte nichts Besseres passieren können als die Rennabsagen in der ersten Jahreshälfte 2020 wegen Covid: In aller Ruhe absolvierte Hirschi ungeahnte Umfänge, unterbrochen von kurzen, hochintensiven Intervallen. Ausdauer und Explosivität auszutarieren, sei ein individueller Balanceakt, sagt Deckert. 2020 gelang dies Hirschi meisterlich.

Ab 2021 beobachtete der Coach aus der Distanz mit Unbehagen, dass Hirschi sein Training bei UAE umstellte, hin zu mittleren Intensitäten und geringeren Umfängen. Erst 2024 habe er sich wieder stärker aufs Bewährte besonnen.

Nicht alles war schlecht bei UAE. Hirschi bekam dort seine langjährigen Hüftprobleme in den Griff, indem er bei seinem Rennrad auf eine nur 160 Millimeter lange Kurbel wechselte. Seitdem ist er kaum noch verletzt. Ihm gelangen auch im Trikot des staatsnahen Sponsors einige Siege – allerdings fast nur an kleineren Rennen abseits der Scheinwerfer. Magische Momente zu kreieren, ist am ehesten an dreiwöchigen Rundfahrten wie der Tour de France möglich, doch Hirschi wurde 2023 und 2024 für keine einzige Grand Tour nominiert. Er wirkte wie ein Zauberer, der seine Tricks im Hinterhof darbieten muss, weil ihm der Zutritt zur Bühne verweigert wird.

Die Tudor-Ära begann für Hirschi mit einem Sieg im Januar vielversprechend, doch im März, nach dem Eintagesrennen Mailand–Turin, erkrankte er leicht, was den folgenden Trainingsblock beeinträchtigte. Dennoch nahm er im April schon wieder am nächsten Rennen teil, der Baskenland-Rundfahrt. Durch das enge Programm ging die vorher sorgfältig austarierte Balance zwischen einfachen und schweren Belastungen verloren, der sechstägige Anlass in Spanien kam zur Unzeit. «Ohne die Krankheit wäre alles perfekt aufgegangen, aber so bin ich in eine Negativspirale gerutscht», sagt Hirschi selbst. «Es gab viele kleine Faktoren, die sich aufaddierten», meint Deckert.

Radsport ist zu einem grossen Teil Kopfsache, minimale Formschwankungen potenzieren sich über die Psyche. Komme ein Fahrer in einen Flow, sagt Deckert, seien ihm auf einmal ganz besondere Dinge möglich. Fehlten dagegen die positiven Erlebnisse, falle ihm alles noch schwerer.

An diesem Punkt sah Deckert seinen Schützling. Er plädierte dafür, dass Hirschi den geplanten Start am Giro d’Italia im Mai absage. Was bedeutete, dass der Fahrer die erste Chance auf eine Grand-Tour-Teilnahme im neuen Team verpassen würde. Der Verzichtsentscheid fiel im Dialog, und Hirschi zeigte sich einverstanden, zumal er selbst fürchtete, nach dem dreiwöchigen Etappenrennen noch kaputter zu sein als vorher. Dennoch empfand er die Situation als frustrierend. «Es war hart», sagt er.

Fünf Tage lang rührte der Ittiger sein Rad nach der Ausbootung nicht an. Kurz darauf reiste Hirschi in ein mehrwöchiges Höhentrainingslager in der Sierra Nevada, um das zu tun, was ihn in der Vergangenheit immer wieder stark machte: unzählige lockere Stunden auf dem Velo, unterbrochen von Intervallen nahe am Limit.

«Er ist heute ein stärkerer Fahrer als 2020»

Deckert sagt: «Wir wollen, dass Marc Spass am Velofahren hat. Dann haben alle, die ihm zuschauen, ebenfalls Spass.» Ein physisches Problem bestehe keinesfalls. «Auch wenn es die Ergebnisse nicht immer gezeigt haben, hat sich Marc in den letzten Jahren körperlich verbessert. Er ist heute ein stärkerer Fahrer als 2020.»

Der Radprofi meldet sich an einem Ruhetag telefonisch. Er sitzt in einem Café oberhalb seines Hotels, wo er sich mit Julian Alaphilippe verabredet hat, dem zweiten prominenten Tudor-Profi, der wechselvolle Zeiten hinter sich hat. Hirschi wirkt zuversichtlich, sein Tatendrang ist gross, er freut sich auf die am Sonntag beginnende Tour de Suisse.

Geht es nach Deckert, ist das Rennen in der Schweiz jedoch nicht mehr als eine Verlängerung des Trainingsblocks. Exploits an einzelnen Tagen sind nicht ausgeschlossen, doch im Wesentlichen soll Hirschi weiter an seiner Form feilen, um zum bestmöglichen Zeitpunkt den Zenit zu erreichen: an der Tour de France. Dort, wo er vor fünf Jahren berühmt wurde.

Kann ihm 2025 in Frankreich wieder Grosses gelingen? Deckert hält es für möglich: «Wenn Marc in Höchstform ist, muss er sich vor niemandem verstecken.» Gelingen Hirschi weitere magische Momente, wäre das ein noch grösserer Triumph als 2020. Damals schien ihm im Radsport alles zuzufliegen. Jetzt ist offensichtlich, wie schwer es in Wirklichkeit ist.

2025-06-14T20:04:24Z