DER NäCHSTE ZWERGKLUB NIMMT KURS IN RICHTUNG BUNDESLIGA

Nicht der Hamburger SV und auch nicht Schalke 04, Holstein Kiel dürfte in der nächsten Saison in der Bundesliga spielen – und damit eine Premiere schaffen. Die Leistungsträger sind unter anderem frühere Top-Talente wie Lewis Holtby und Jann-Fiete Arp.

Im Mai 2023 wird den Aspiranten in der 2. Bundesliga auf einen Schlag klar: Das mit dem Aufstieg in der nächsten Saison wird fast unmöglich. Mit Schalke und Hertha BSC steigen nämlich zwei Grossklubs ab, die den sofortigen Wiederaufstieg anpeilen. Dazu wird auch der Hamburger SV alles dafür tun, endlich wieder zurück in die oberste Spielklasse zu kommen. Diese drei würden die ersten drei Plätze in der zweiten Liga untereinander ausmachen, war die Erwartung. Pustekuchen!

Ein knappes Jahr später stehen der FC St. Pauli und Holstein Kiel auf den direkten Aufstiegsplätzen. Den Hamburgern ist die Rückkehr in die Bundesliga nach 13 Jahren drei Spieltage vor Schluss mit sieben Punkten Vorsprung auf den Relegationsplatz kaum noch zu nehmen. Bei Kiel ist das Restprogramm aufgrund des Direktduells mit dem Drittplatzierten Düsseldorf, der fünf Punkte zurückliegt, zwar etwas heikler, doch ist der Aufstieg auch im Falle der Holsteiner sehr wahrscheinlich.

Gelingt dies tatsächlich, wäre es eine grosse Überraschung. Nicht, weil der Erfolg der Kieler Sportvereinigung aus dem Nichts kommt, schliesslich erreichte sie seit dem Aufstieg in die 2. Bundesliga im Jahr 2017 zweimal die Relegation, wo sie einmal an Wolfsburg (17/18) und einmal an Köln (20/21) scheiterte. Und auch nicht unbedingt aufgrund des Etats, immerhin hat Kiel den siebthöchsten Marktwert der Liga. Jedoch wäre die Teilnahme an der Bundesliga nicht nur eine Premiere für den Klub, sondern auch für das Bundesland Schleswig-Holstein, das noch nie in Deutschlands Oberhaus vertreten war.

Vor elf Jahren noch im Amateurfussball

Es wäre die Krönung einer Erfolgsgeschichte in Kiel, die 2013 mit der Rückkehr in den Profifussball ihren Anfang nahm. Damals machte Kiel den Aufstieg in die 3. Liga in der Aufstiegsrunde gegen Hessen Kassel klar. «Das war ein sehr wichtiger und emotionaler Tag», erinnert sich Wolfgang Schwenke, der seit 2009 als Geschäftsführer bei den Norddeutschen fungiert, im Gespräch mit Transfermarkt. Seither sei der Verein in allen Bereichen gewachsen und professioneller geworden. Dass die Geschichte Kiels ohne diesen Erfolg auch ganz anders hätte verlaufen können, zeigt die Tatsache, dass Kassel seither nie wieder auch nur in die Nähe des Aufstiegs kam und zwischenzeitlich gar in die 5. Liga abstürzte.

Kiel hingegen kämpfte sich in der 3. Liga erst zum Klassenerhalt und schaffte vier Jahre nach dem Aufstieg den Sprung in die 2. Bundesliga. Damit ging in Erfüllung, woraufhin der Klub schon länger hingearbeitet hatte – auch mit für die 3. und 4. Liga grossen finanziellen Mitteln. In der 2. Liga etablierte sich die KSV ebenfalls schnell, nur einmal in mittlerweile sieben Jahren beendete Kiel die Saison in der unteren Tabellenhälfte. Das, obwohl die besten Spieler immer wieder ziehen gelassen werden mussten. Unter anderem Dominick Drexler, der für Köln und Schalke insgesamt 81 Bundesliga-Partien machte, und Jae-sung Lee, der bei Mainz seit drei Jahren gesetzt ist, dürften Bundesliga-Fans ein Begriff sein.

Der jetzige Kader besteht nun vor allem aus Spielern, die bei anderen Klubs nicht mehr gebraucht wurden. Da wären beispielsweise Timo Becker und Steven Skrzybski, die bei Schalke ausrangiert wurden. Sie sind nicht die einzigen Kiel-Profis mit Bundesliga-Erfahrung.

Starke Defensive trotz attraktivem Offensivfussball

Der Star der Mannschaft ist Lewis Holtby, der bereits 200 Mal in der höchsten Liga auflaufen durfte, sein riesiges Potenzial nach seinem Weggang von Schalke aber viel zu selten ausschöpfen konnte. In Kiel blüht er in der laufenden Saison mit vier Treffern und zehn Assists aber gerade wieder auf. Ähnliches galt zwischenzeitlich für Jann-Fiete Arp, der in Schleswig-Holstein aufgewachsen ist. Bayern riss sich das frühere Toptalent 2019 unter den Nagel, doch konnte sich Arp dort nie durchsetzen. Während dieser Saison erlebte der mittlerweile 24-Jährige wohl die bisher stärkste Phase seiner Profikarriere mit fünf Treffern in acht Spielen, doch fiel er dann zwei Monate verletzt aus. Seit seiner Rückkehr sucht er noch nach seiner Form.

Der Holsteiner Offensive tat dies jedoch keinen Abbruch. Mit 61 Toren stellt Kiel den viertbesten Angriff der Liga, gleichzeitig kann es mit 37 Gegentoren auf die drittbeste Defensive zählen. Das Erfolgsgeheimnis beschrieb Trainer Marcel Rapp kürzlich so: «Wir müssen uns nicht hinten reinstellen. Wir können verteidigen und unsere Spielweise trotzdem beibehalten. Wir spielen zu null, aber haben immer noch mit die meisten Torchancen aller Teams.»

Die Kieler spielen so durchaus attraktiven Fussball, geben viele Schüsse ab und machen viel aus ihren Chancen. Gemäss fbref.com erzielte Kiel nämlich zehn Tore mehr, als gemäss dem «Expected-Goals-Wert» zu erwarten wäre. Die Defensive liess zudem fünf Tore weniger zu, als der Erwartungswert aussagt. Man kann dies nun durchaus als glücklich bezeichnen, man kann aber auch sagen: Kiel ist einfach effizient.

Den Norddeutschen ist aber ohnehin egal, was Leute von aussen meinen. Sie schauen nur auf sich. So sprachen weder Trainer Rapp noch Captain Holtby bisher vom Aufstieg. Nicht einmal nach dem 1:0-Erfolg beim Konkurrenten HSV am vorletzten Spieltag. Doch wer am Boden bleibt, lässt sich auch von kleineren Rückschlägen wie der 1:3-Niederlage gegen Kaiserslautern am Samstag nicht aus der Ruhe bringen.

Nicht alle dürften sich über Kiels Aufstieg freuen

Der Trainer gab den Weg vor: «Das sollte kein Beinbruch sein und wirft uns auch nicht um. Einfach den Weg weitergehen, dann werden wir noch einige Punkte holen.» Stürmer Arp ergänzte: «Es ist ja in der Saison nicht das erste Mal, dass wir ein Spiel verlieren. Das darf uns auch mal passieren. Wichtig ist, wie wir das verarbeiten und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Wir haben es uns erarbeitet, dass wir nach wie vor alles in der eigenen Hand haben.»

Schon am nächsten Sonntag könnte Kiel den Aufstieg mit einem Sieg gegen Wehen-Wiesbaden klarmachen, sollte Düsseldorf zwei Tage zuvor nicht gegen Nürnberg gewinnen. Ansonsten kommt es eine Woche später im Direktduell zum Showdown. Geschieht nichts Unerwartetes, bekäme die Bundesliga einen weiteren «Zwergverein», während Traditionsklubs wie der HSV, Schalke oder Kaiserslautern eine Liga tiefer spielen. Das dürfte nicht bei allen Fans gut ankommen. Zumal das Holstein-Stadion, an dem für die Bundesliga noch einige Anpassungen vorgenommen werden müssten, wie der letztjährige Bundesliga-Neuling Heidenheim nur rund 15'000 der knapp 250'000 Kielerinnen und Kielern Platz bietet. Aber wie bereits erwähnt: In Kiel misst man der Meinung der Aussenstehenden wenig Bedeutung zu.

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