DIE SCHIESS-OLYMPIASIEGERIN NINA CHRISTEN IST ERNEUT MEDAILLENKANDIDATIN – TROTZ ERSCHöPFUNG, TRAINERWECHSEL UND EINER POLEMIK

Drei Goldmedaillen hat die Schweiz an den letzten Sommerspielen in Tokio gewonnen, allesamt durch Frauen. Eine von ihnen gehört auch dieses Mal zur Olympia-Delegation: Nina Christen, die einzige Schiess-Olympiasiegerin, die das Land je hatte.

Dass die 30-jährige Nidwaldnerin in Paris erneut dabei ist, mag auf den ersten Blick als Selbstverständlichkeit erscheinen. Doch ihr Weg an die Sommerspiele war kompliziert. Die Herausforderungen, die sich ihr stellten, begannen schon, kurz nachdem sie sich in Tokio mit Gold und Bronze einen Lebenstraum erfüllt hatte.

Beim Helikopterfliegen blühte sie wieder auf

Christen litt nach der Heimkehr unter einer postolympischen Depression. Sie fühlte sich erschöpft und antriebslos. Und wenn sie Bilder von ihren Medaillengewinnen sah, erschrak sie darüber, wie verhalten sie gejubelt hatte. «Ich funktionierte nur noch und war mir selber fremd», sagte Christen. Dank der Zielstrebigkeit, mit der sie sich dem Schiessen verschrieben hatte, wurde sie in der Schweiz zwar zur Pionierin und Vorzeige-Athletin. Doch bald spürte sie, dass sie sich zu viel aufgebürdet hatte.

Erst nach Monaten fand sie den Ausweg aus der Krise. Christen lernte, ihre Emotionen neben dem Schiessstand mehr zuzulassen. Und dass sie nicht allein dafür verantwortlich ist, dass ihr Verband nachhaltig von ihren Erfolgen profitiert. Zudem fand sie eine Passion abseits der Monotonie der Schiesshalle: Sie fing eine Ausbildung an, um die Privatpilotenlizenz im Helikopterfliegen zu erlangen. Und plötzlich blühte sie wieder auf.

Neben der Lebensfreude kehrte auch ihr Feuer fürs Schiessen zurück. Nur: Christen musste herausfinden, mit wem sie verbandsintern am besten harmoniert, nachdem es zu atmosphärischen Störungen zwischen ihr und einem hauptverantwortlichen Trainer gekommen war. Als Konsequenz daraus wechselte sie die Trainingsgruppe und erhielt einen neuen Coach, den Dänen Torben Grimmel.

Christen schaffte es seitdem, ihre Position an der internationalen Spitze zu verteidigen, in der Königsdisziplin Dreistellungsmatch liegt sie auf Rang 4 der Weltrangliste. Doch gleichzeitig erstarkten die Gegnerinnen auf nationaler Ebene in einem solchen Mass, dass sie sogar um ihren Olympia-Startplatz bangen musste. Zu ihren Konkurrentinnen wurden Chiara Leone, Europameisterin und Weltnummer 3, und Emely Jäggi, die mit erst 15 Jahren sensationell einen Weltrekord egalisierte und auf Weltcup- und EM-Podeste stieg.

Für die Selektionäre hätte die Ausgangslage kaum unangenehmer sein können. Sie wussten, dass sie nur zwei Athletinnen aus dem Trio nach Paris schicken können – und dass sie mit einem Shitstorm von Anhängern der Enttäuschten rechnen müssen. Und so kam es auch: Als die Entscheidung zuungunsten von Jäggi ausfiel, ergriff in den sozialen Netzwerken manch einer mit markigen Worten Partei für das übergangene Supertalent. Die teilweise sehr emotional geführte Debatte mündete in eine Polemik.

Das Team wohnt auf einem Anwesen mit Schloss, wo ein französischer Sterne-Koch für das leibliche Wohl sorgt

Daniel Burger, der Leistungssport-Chef von Swiss Shooting, war einer der Selektionäre. Er begründete die Auswahl auch damit, dass es darum gehe, einen jungen Menschen wie Jäggi nicht einem unermesslichen Druck auszusetzen. Zudem sei der Olympia-Schiessstand sehr anfällig für Windeinfluss, und Athletinnen wie Christen und Leone brächten nur schon altersbedingt mehr Wissen mit, wie auf heikle Verhältnisse zu reagieren sei – die beiden seien gar Windspezialistinnen.

Burger mag geholfen haben, dass er bereits 2016 mit einer ähnlichen Polemik und bösen Briefen konfrontiert war. Schon damals setzte er sich für Christen ein, was in der Szene für Aufruhr sorgte, sich jedoch als gute Strategie erwies. Christen errang damals immerhin ein Diplom und zehrte von dieser Erfahrung, als sie fünf Jahre später Olympiasiegerin wurde.

Was nicht unwesentlich scheint: Christen und Leone sind Angehörige des 2016 eröffneten Nationalen Leistungszentrums (NLZ) von Swiss Shooting in Biel. Wer es ernst meint mit seinen Ambitionen, hat seinen Lebensmittelpunkt hierhin verlegt.

Es wirkt, als hätte das NLZ im Mindset viel verändert. Noch selten dürfte ein Schweizer Schiessteam einen solch sportlichen Eindruck hinterlassen haben wie jenes Quintett, das nun für Paris nominiert worden ist. Sicher, die Spitzensport-RS und Zeitmilitär-Anstellungen sind immer noch wichtige Pfeiler in der Ausbildung. Aber vielleicht ist es kein Zufall, dass der Verband just eine Hausse erlebt, seit er sich weniger an althergebrachten Mustern orientiert, die an Armee-Mief gemahnen.

Daniel Burger ist eine Art geistiger Vater des NLZ. Er hat es verstanden, den wenigen Spitzenathleten trotz einheitlicher Struktur einen individuellen Weg zu ermöglichen. Der Freiburger ist kein Diktator, der alle Untergebenen über einen Kamm schert. Und er hat auch für diese Sommerspiele nichts unversucht gelassen, um den Athleten ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich wohlfühlen. Das Team ist auf einem Anwesen mit einem Schloss untergebracht, ein französischer Sterne-Koch sorgt für das leibliche Wohl.

Die Wettkämpfe im Schiessen finden nicht in Paris statt, sondern rund 250 Kilometer südlich in der Nähe der Stadt Châteauroux. Anders als viele Athleten konnten die Vertreter dieser Sportart nicht mit dem TGV an ihre Olympia-Stätte reisen, da Sportwaffen in französischen Zügen verboten sind.

In Tokio ging es um sportlichen Erfolg, nun um die Entwicklung als Persönlichkeit

Burger wird an den Spielen auch im Schiessstand gefordert sein: Die Anzahl Akkreditierungen für Betreuer war begrenzt, und weil andere Nationaltrainer mehr Athleten im Einsatz haben, blieb für Christens Coach Grimmel keine übrig. So wird Burger während der Wettkämpfe Christens Vertrauensperson sein – wie in Tokio, wo sich diese Konstellation bewährt hat.

Christen sagt, die lockere Art von Burger, der sich als eine Art Blitzableiter sieht, habe ihr damals gutgetan. Der Running Gag war, dass sie sich auf dem Weg zu Gold darüber unterhielten, was es wohl Feines zum Abendessen gebe. Das könnte auch in den kommenden Tagen funktionieren, der Sterne-Koch steht ja bereit. Christens Leibspeisen? «Tatar. Und alles mit Schokolade.»

Worüber die beiden in Tokio auch schmunzeln mussten: In der Schiesshalle wurde plötzlich Burgers Lieblingslied gespielt, als hätte er es beim DJ für Christen bestellt. Solch unbeschwerte Momente können in einer Sportart, in der die Athleten dauernd zwischen Anspannung und Entspannung hin und her wechseln müssen, von Bedeutung sein. Das weiss kaum eine besser als Christen, die durch ihre Depression gelernt hat, Gefühle stärker zuzulassen.

Als sie vor einem Monat in Biel in einer Journalistenrunde Auskunft gibt, ist sie redselig und relaxt wie selten. Sicher, die Olympia-Qualifikation sei ein «brutaler Kampf» gewesen, aber sie habe sich von der Last befreien können, sagte sie, während sie seelenruhig ein Birchermüesli löffelte.

Auch die Medaillen von Tokio würden keinen Druck erzeugen, diese habe sie in einem Safe weggesperrt. Und überhaupt: In Tokio sei es primär um sportlichen Erfolg gegangen, nun sei ihr ebenso wichtig, wie sie sich als Persönlichkeit entwickle. Diesmal scheint sie bereit für den grossen Jubel, sollte sie den nächsten Coup landen.

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