ELF STUNDEN IM FLUGZEUG NEBEN DEM TOTEN AYRTON SENNA: SEIN PHYSIOTHERAPEUT ERINNERT SICH AN DEN TöDLICHEN CRASH IN IMOLA

Es ist eine Szene, die niemand in der Formel 1 je vergessen hat. Viele wissen nicht nur das Datum, den 1. Mai 1994, die meisten kennen sogar den genauen Zeitpunkt: Um 14.17 Uhr fährt Ayrton Senna mit seinem Williams-Rennwagen in der Tamburello-Kurve von Imola einfach geradeaus.

Das Auto zerschellt in der Bande, der Brasilianer im Cockpit bleibt reglos, später am Abend wird er für tot erklärt. Der Grand-Prix-Sport steht lange unter Schock, nachdem am Vortag schon der Österreicher Roland Ratzenberger tödlich verunglückt war. Ein schwarzes Wochenende.

Senna, der bis zuletzt auch für seinen Teamchef Frank Williams als der «Unverwundbare» gegolten hatte, ist auch drei Jahrzehnte nach seinem Tod das Idol der Königsklasse – und längst ein Mythos.

Netflix lanciert eine Senna-Doku, Sebastian Vettel eine T-Shirt-Kollektion

Beim Grand Prix von Miami wird am Wochenende ein Mural enthüllt, das dem nur 34 Jahre alt gewordenen Rennfahrer huldigt, beim Grand Prix der Emilia-Romagna in drei Wochen in Imola sollen Senna und Ratzenberger besonders geehrt werden. Zudem ist eine Senna-Dokumentation von Netflix in Vorbereitung. Und Sebastian Vettel hat eine T-Shirt-Kollektion «Senna Forever» entwerfen lassen.

Für einen Moment wird in diesen Tagen aber auch die Tragik von Sennas Tod wieder lebendig, den der damalige Promoter Bernie Ecclestone drastisch umschrieben hatte: «Es war, als wäre Jesus live gekreuzigt worden.»

Für Jo Leberer wird jenes dramatische Wochenende immer präsent bleiben. Der Österreicher war damals der Physiotherapeut an Sennas Seite – und mehr als das: sein Seelenmasseur, ein Freund. Am Vorabend des tragischen Rennens feierte der Fitnesstrainer seinen 35. Geburtstag. Es wurde ein stilles Essen nach dem Tod Ratzenbergers am Nachmittag, Ayrton Senna genehmigte sich gegen seine Gewohnheit ein Glas Rotwein. Dieser letzten gemeinsamen Stunden erinnert sich Leberer noch immer. Später hat er die Betreuung aller Sauber-Rennfahrer übernommen. Nach 27 aktiven Jahren im Dienst des Schweizer Rennstalls ging er Ende letzter Saison in Pension, heute ist er Botschafter des Teams.

Am Rennsonntag von Imola fliegt Leberer mit dem Helikopter ins Krankenhaus von Bologna, sieht seinen Freund an der Herz-Lungen-Maschine, die ihn noch für ein paar Stunden am Leben erhält. Doch er sieht auch die furchtbaren Kopfverletzungen und weiss, dass es aussichtslos ist. Wenn er an diese Momente denkt, bekommt der Salzburger noch heute Gänsehaut. Von Sennas Familie war er gefragt worden, ob er bei der Überführung des Sarges dabei sein könnte.

Die Fluggesellschaft Varig war gebeten worden, der tote Sohn möge seine letzte Reise bitte nicht im Frachtraum antreten. Und so wurden in der Mittelreihe der Businessclass die Sitze ausgebaut, um den Sarg dort aufzustellen. Elf Stunden lang von Paris nach São Paulo harrte Jo Leberer an der Seite Sennas aus, mit ihm im Abteil waren lediglich ein paar Bekannte. Viel Zeit, um Abschied zu nehmen. «Die Passagiere in der Economyclass wussten gar nicht, dass vorne ihr toter Nationalheld lag», erinnert sich Leberer, «es war eine seltsame Stimmung.» Als das Flugzeug den brasilianischen Luftraum erreicht, geben Kampfjets der Luftwaffe Senna das letzte Geleit.

Jo Leberer bewältigt seinen schweren Dienst «wie in Trance». Angekommen in São Paulo, sitzt er in der Eskorte hinter einem Feuerwehrwagen, auf den Sennas Sarg montiert ist und zur Aufbahrung ins Kongresszentrum gefahren wird. Der traurige Korso führt kilometerlang durch Strassen, die von zwei Millionen Menschen gesäumt werden. So wird deutlich, was dieser Sportler für sein Heimatland war: ein Nationalheld. Auf dem Cemitério do Morumbi, der an der Stadtautobahn in Richtung der Rennstrecke von Interlagos liegt, erhält Senna seine letzte Ruhestätte.

«Das war keine einfache Beerdigung, da trug ein ganzes Volk Trauer», sagt Leberer. Er ist als Sargträger vorgesehen, lehnt das aber ab. Die Rennfahrer Rubens Barrichello, Alain Prost, Emerson Fittipaldi und Gerhard Berger übernehmen das.

Senna hatte eine Aura, die fast ins Philosophische ging

Ayrton Senna war ein gläubiger Mensch, im Motorhome lag stets eine Bibel. Seine intensivste Beziehung ist die zu Gott, selbst im Cockpit schien ihm der Schöpfer nah: «Ich spüre dort seine Gegenwart.» Doch der Bereich zwischen Leben und Tod war ein Tabu für ihn, Reportern entgegnete Senna auf diesbezügliche Fragen stets: «Warum fragt ihr immer nach dem Sterben?»

Es ist jene Seite des auf der Piste als kompromisslos, oft rücksichtslos geltenden Rennfahrers, die Jo Leberer so interessant findet. Neben der Piste wirkte der dreifache Weltmeister zurückhaltend, fast schüchtern. Doch er hatte eine Aura, die fast ins Philosophische ging. Auf dieser Basis entstand ihr Vertrauensverhältnis, Senna öffnete sich. «Ich habe seither keine solche Persönlichkeit mehr getroffen», sagt Leberer.

Jo Leberer war einer der Pioniere der Physiotherapie in der Formel 1, er hat mit vielen grossen Rennfahrern gearbeitet: Alain Prost, Mika Häkkinen, Kimi Räikkönen, Sebastian Vettel. Doch zu Ayrton Senna hatte er nach sechs gemeinsamen Jahren eine ganz besondere Beziehung: «Er war extrem fordernd, aber er hat einem auch enorm viel gegeben.» Die ausgeprägtesten Charaktereigenschaften kann der Freund wie eine Checkliste herunterrattern: Willensstärke, Leidenschaft, positives Denken, Disziplin, Detailverliebtheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeitssinn.

Zusammen ergibt das für Jo Leberer jenes Charisma, das auch die Grundlage für den heutigen Mythos Ayrton Senna bildet.

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