INTERVIEW - DER FRüHERE SPITZENSCHIEDSRICHTER URS MEIER KRITISIERT DEN VIDEOBEWEIS UND DIE HANDS-REGEL: «DIE UNPARTEIISCHEN BENöTIGEN MEHR FUSSBALLVERSTäNDNIS»

Herr Meier, wie stehen Sie zum VAR?

Ich habe gemischte Gefühle. Bei Schwarz-Weiss-Entscheidungen ist der Videobeweis eine Hilfe. Beispielsweise, wenn es darum geht, ob der Ball die Torlinie überquert hat. Am letzten Wochenende gab es beim Clásico in Spanien zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona eine solch unübersichtliche Situation, doch die spanische Liga verzichtet auf die Torlinientechnologie. Es ist geradezu absurd, in einem so bedeutenden Spiel auf dieses Hilfsmittel zu verzichten. Und wenn es um Abseits geht, sind die kalibrierten Linien wertvoll. Insgesamt aber bin ich nicht überzeugt vom VAR.

Weshalb nicht?

Weil es zu viele Fehler gibt. Weil die Entscheidungen zu langsam gefällt werden. Weil man am Bildschirm manchmal nicht die ganze Aktion bewertet. Das sind nur drei Beispiele. Am TV erkennt man oft nicht genau, ob eine Absicht bei einem Foulspiel vorlag, daran ändern auch unendlich viele Kameraperspektiven nichts. Zudem stimmen die Distanzen oder die Geschwindigkeit nicht, in der Superzeitlupe sieht ein Foul anders aus, und man findet bestimmt eine Aufnahme, in der eine Aktion härter aussieht, als sie war. Da stimmen die Relationen nicht, was zu einer Verunsicherung bei Schiedsrichtern und Spielern, Trainern und Zuschauern geführt hat. Dabei würde es ein sehr gutes Mittel geben, die Unparteiischen zu stärken.

Welches?

Ich bin seit langer Zeit ein Befürworter der Professionalisierung der Schiedsrichter. Es geht um derart viel Geld im Fussball, da kann es nicht sein, dass man bei einer so wichtigen Position spart. Zudem benötigen die Schiedsrichter mehr Fussballverständnis. Es wäre sinnvoll, wenn ehemalige Profis regelmässig mit Schiedsrichtern arbeiten würden.

Stimmt der Eindruck, dass es für die Schiedsrichter sogar schwieriger geworden ist mit dem VAR?

Absolut. Es gibt heute viel mehr Einflüsse von aussen. Früher pfiff man ein Spiel und hatte eine Linie, die man durchziehen konnte. Die Schiedsrichter sind jetzt eigentlich nur noch am Reden und Diskutieren. Es prasseln während der gesamten Spielzeit so viele Informationen auf sie ein, dass es schwierig ist, den Fokus zu behalten. Was fehlt: die Konzentration auf die wesentlichen Dinge. Der Fussball ist noch athletischer und schneller geworden, es gibt so viele enge Zweikämpfe. Zudem müssen die Schiedsrichter besser geschützt werden, die Anfeindungen nicht nur auf Social Media haben stark zugenommen.

In welchen Bereichen ist es für die Schiedsrichter besonders unangenehm geworden?

Ich habe festgestellt, dass sie oft nicht mehr genau richtig stehen und nicht mehr um den letzten Meter kämpfen, um in der perfekten Situation zu sein. Das ist verständlich, weil irgendjemand ja noch am TV schaut. Die Schiedsrichter entscheiden weniger mutig und konsequent, weil es das Fangnetz VAR gibt oder zumindest geben sollte. Ich vergleiche das gerne mit einer Autofahrt. Da verliert man auch die Sicherheit, wenn der Airbag viermal ausgelöst wird. Der Schiedsrichter muss am Steuer sitzen und dafür sorgen, dass es keine Unfälle gibt. Der Airbag sollte nur im äussersten Notfall helfen.

Ist der Videobeweis also ein Ärgernis und in dieser Form gescheitert?

Ich verstehe jeden, der das so sieht. Im Grunde genommen sollte es heute deutlich weniger Debatten geben. In den sieben Jahren mit dem VAR ist es aber nicht besser geworden, es hört ja nie auf, jeden Tag gibt es kontroverse Szenen und grosse Schlagzeilen. Die Schiedsrichter stehen wegen des VAR zu stark unter Druck, weil der Videobeweis eben kaum mehr Fairness bringt. Es herrscht dauernd Angst, Fehlentscheidungen zu treffen, weil irgendwo ein Bild auftauchen könnte, das einen überführt.

Für Sie als TV-Experten sind die ständigen Debatten ideal: Ihre Rolle ist noch wichtiger geworden.

Es ist paradox: Aber genau so ist es. Die Verantwortlichen beim ZDF sagten 2018, dank dem VAR werde es in Zukunft keinen Schiedsrichterexperten mehr benötigen. Ich musste schmunzeln und sagte ihnen: «Wartet nur ab, jetzt braucht es erst recht einen.» Und so ist es gekommen. Ich sehe das bei meinen Einsätzen für DAZN in Deutschland und für Blue Sport in der Schweiz.

Und wie beurteilen Sie die Entwicklung der Schiedsrichterszene in der Schweiz?

Wir haben, um ein starkes Wort zu verwenden, einen Superstar. Es ist toll, dass mit Sandro Schärer an der EM im Sommer endlich wieder ein Schweizer an einem grossen Turnier teilnehmen darf. Er hat sich das verdient. Insgesamt könnte die Situation jedoch besser sein. Ich formuliere es einmal positiv: Wir sind in Europa im vorderen Mittelfeld.

Was zeichnet Sandro Schärer aus?

Er pfeift regelmässig auf sehr hohem Niveau, hat Erfahrung, eine starke Körpersprache und einen angenehmen Umgang mit den Spielern. Wie gut er im internationalen Vergleich ist, wird man an der EM sehen. In den ganz grossen Begegnungen braucht es ganz grosse Leistungen. Diese Bühne kommt für Schärer an der Europameisterschaft, dort kann er sein Meisterstück abliefern.

Die Schweiz hat seit langer Zeit keinen international anerkannten Top-Referee mehr – wie Sie es waren oder Massimo Busacca. Warum nicht?

In erster Linie braucht ein guter Schiedsrichter, wie in jedem Beruf, nicht nur Talent, sondern auch Leidenschaft und Fleiss. Als ich 2004 meine aktive Karriere beendete, war mir klar, dass die Strukturen verbessert werden müssen. Schiedsrichter möchten sich auch wertgeschätzt fühlen, man muss sie motivieren, ausbilden, führen, coachen. Dafür benötigt es Investitionen. Mir war bewusst, dass die Schweiz den Anschluss verlieren wird, wenn wir nicht mindestens drei, vier Schiedsrichter zu Profis machen. Die Schweiz hatte von 1934 bis 2010 immer einen Referee an Weltmeisterschaften. Ich sagte schon vor fünfzehn Jahren, dass wir ein Problem bekommen würden, sollte sich nichts ändern. Diese Entwicklung war selbstverschuldet.

Wie wichtig ist Schärers EM-Aufgebot für die Schweizer Schiedsrichter?

Es ist ein schönes Zeichen. Und seit ein paar Jahren haben wir immerhin Halbprofis. Das ist zu wenig, aber es ist ein Anfang. Die Verantwortlichen geben sich Mühe, aber auch sie sind keine Profis, das muss geändert werden. Das Schiedsrichterwesen ist sehr komplex geworden.

Auch die Hands-Regel ist viel zu kompliziert und unlogisch. Was muss sich ändern?

Zurück auf Feld 1. Früher war es deutlich besser und übersichtlicher. Es sollte nur um zwei Dinge gehen: Absicht oder nicht? Natürliche Handbewegung oder nicht? Ich verstehe beispielsweise nicht, warum ein Tor niemals zählt, wenn der Ball dem Torschützen vorher irgendwie an den Arm flog.

Im Champions-League-Spiel zwischen Arsenal und Bayern gab es kürzlich keinen Elfmeter für die Bayern, weil der Schiedsrichter nicht auf Hands entschied, als Arsenals Verteidiger Gabriel den Ball nach einem Abstoss in die Hand nahm, weil er dachte, der Abstoss sei noch nicht ausgeführt. Der Schiedsrichter sagte hinterher, er wollte die Begegnung nicht wegen eines «Kinderfehlers» beeinflussen. Nachvollziehbar?

Ich bin total anderer Meinung. Hands ist Hands und muss geahndet werden. Ob in der Champions League oder in einem Spiel der B-Junioren. Der Schiedsrichter hätte seine Entscheidung zudem anders verkaufen müssen. Er hätte sagen können, das Spiel sei noch nicht freigegeben worden. Aber er kann keine Regeln erfinden.

Es fehlt derzeit an internationalen Ausnahmeschiedsrichtern, wie es etwa Pierluigi Collina war. Teilen Sie diesen Eindruck?

Ja, es gibt derzeit keinen prägenden Schiedsrichter, wie es zuletzt noch Howard Webb war. Wahrscheinlich können sich Schiedsrichter heute aber auch weniger entfalten, weil ihre Wirkung und ihre Entscheidungskraft durch den VAR kleiner geworden sind.

Wäre es nicht sinnvoll, nur Schiedsrichter aus den Top-5-Ligen an Welt- und Europameisterschaften zu berücksichtigen?

Das finde ich nicht. Es spielen ja auch kleinere Nationen mit. Es geht immer um die Klasse. Der Pole Szymon Marciniak hat schon herausragende Leistungen gezeigt. Bei einer WM kann es ein Nachteil sein, wenn Schiedsrichter pfeifen, die im Alltag in Asien oder in Afrika nicht auf allerhöchstem Niveau unterwegs sind. Aber wer an einer EM im Einsatz steht, bringt Erfahrung aus der Champions League mit. Sandro Schärer weiss, wie rasant das Spiel sein kann, er hat gelernt, mit Druck umzugehen, und wird nicht überrascht sein, wenn er eine Begegnung zwischen zwei Top-Nationen leitet.

Oft hat man das Gefühl, in Schiedsrichterverbänden gehe es auch um Politik und Klüngelei.

Natürlich geht es immer auch um Politik, das ist in allen Verbänden so. Ehemalige Schiedsrichter wie Markus Merk, Manuel Gräfe oder auch ich formulieren unangenehme Dinge, das hört man nicht gerne. Dabei sind es die unbequemen Menschen, die Sachen anstossen können. Verzichtet man auf solche Leute, geht viel Qualität verloren. Es schadet selten, wenn man Abläufe neu denkt und nicht einfach sagt: So war es schon immer. Man muss sich anpassen und Kritiken annehmen. Gute Schiedsrichter haben sich immer durch ihre Persönlichkeit ausgezeichnet und dadurch, dass sie in Spielen souverän und mit einer stringenten Linie aufgetreten sind. Das ist heute fast nicht mehr möglich, weil der Spielraum wegen des VAR deutlich kleiner geworden ist. Das sorgt für Verunsicherung. Deshalb braucht es ehemalige Top-Schiedsrichter mit einer riesigen Erfahrung in leitenden Funktionen.

Wie ist heute Ihr Verhältnis zum Schweizerischen Fussballverband und zu den Schiedsrichtern?

Mein Engagement als Schiedsrichterchef ging 2011 mit meinem Rücktritt unbefriedigend zu Ende. Zum Verband habe ich eine distanzierte Beziehung, mit den Schiedsrichtern ist es gut. Sie leiden ja am meisten darunter, dass nicht mehr Geld zur Verfügung steht. Es hat etwas Frustrierendes, weil ich davor gewarnt hatte. Wenn ich auf den Mount Everest gehe, bereite ich mich auch nicht mit einer Person vor, die auf dem Üetliberg war.

Wo bieten Sie Ihre Hilfe an?

Ich bin durch meine Arbeit als TV-Experte und mit Vorträgen beruflich ausgelastet. Ein junger Schiedsrichter aus Österreich ist auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich ihn coachen würde. Er muss das selber bezahlen. Der Deutsche Fussballverband wollte mich ja einmal als Schiedsrichterchef verpflichten, aber das scheiterte unter anderem wegen meiner Nationalität. Das war eine bittere Erfahrung. Kein Mensch sagt, ein deutscher Bundesligist dürfe nicht von einem ausländischen Coach trainiert werden.

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