KOMMENTAR - ALLES PERFEKT BEI SWISS SKI NACH DEM TRAUMWINTER? NEIN, DENN DER VERBAND MUSS TROTZ SPORTLICHER BRILLANZ LöSUNGEN FüR DIE PROBLEME DES SKISPORTS FINDEN

Marco Odermatt beendete die Saison standesgemäss mit einem Rekord. Er gewann den Gesamtweltcup mit dem grössten Vorsprung der Geschichte von 874 Punkten. Um die kleine Kristallkugel für den besten Abfahrer der Saison musste er nicht mehr kämpfen. Diese erhielt er in Saalbach-Hinterglemm, nachdem das Wetter ein Rennen verunmöglicht hatte. Anders als Lara Gut-Behrami, die am Tag zuvor die Abfahrtswertung noch aus der Hand gegeben hatte.

Die Schweizer Alpinen haben einen Traumwinter hinter sich, es war sogar einer der erfolgreichsten der Geschichte. Gut-Behrami und Odermatt gewannen für die Schweiz sieben der zehn Einzel-Kugeln. Hinzu kommt zum vierten Mal in den vergangenen fünf Jahren der Sieg im Nationencup, 13 verschiedene Athletinnen und Athleten fuhren 56 Podestplätze heraus. Zudem drücken die Jungen nach, bei den Speed-Männern erreichten die vielversprechenden Franjo von Allmen und Arnaud Boisset die ersten Podestplätze im Weltcup.

Das zeigt, dass nicht nur die alles überstrahlenden Odermatt und Gut-Behrami stark gefahren sind. Selbst ohne Odermatt würde die Schweiz mit Loïc Meillard den Gesamtweltcup-Sieger stellen, die Männerwertung wurde überlegen gewonnen. Die Frauen unterlagen Österreich in der Gesamtwertung nur knapp, obwohl die Weltmeisterinnen Wendy Holdener, Corinne Suter und Jasmine Flury zumindest während eines Teils der Saison verletzt ausgefallen waren.

Der Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann sieht deshalb seine Vision erfüllt. «Wo wir heute stehen, ist nahe an der Perfektion», sagt er in Saalbach, womit er nicht nur die sportliche Situation meint, sondern auch die Organisation im Verband. Seit vergangenem Jahr teilen sich Walter Reusser als CEO Sport und Diego Züger als CEO Commercial die operative Führung, als Alpinchef kam Hans Flatscher aus dem Nachwuchs zurück. Auch finanziell geht es dem Verband gut, in den letzten Jahren steigerte Swiss Ski den Umsatz von 60 auf gut 70 Millionen Franken.

Wie sieht der Skisport in 25 bis 30 Jahren aus?

Sportlicher Erfolg, starke Verbandsführung, genügend Geld – alles perfekt also? Nein. Den Verband plagen Zukunftssorgen, die keine internen Gründe haben. Der Skisport steht vor entscheidenden Jahren. Besonders zwei grosse Problembereiche prägten die zu Ende gegangene Saison: die Verletzungsmisere und der Klimawandel.

Rund ein Fünftel der geplanten Weltcup-Rennen wurde wetterbedingt nicht durchgeführt. Die veränderten klimatischen Bedingungen fordern die Verantwortlichen auf mehreren Ebenen. Wann wird wo trainiert und gefahren? Und wie sieht der Skisport in 25 bis 30 Jahren aus? Swiss Ski versucht diese Antworten in seiner «Vision 2050» zu erarbeiten, wobei es dort nicht nur um ökologische Themen geht, sondern auch um ökonomische und soziale.

Zur ökologischen Frage gehört, dass ermittelt wird, in welchen Skigebieten es auch in 20 Jahren noch Schnee haben wird. Hier könnte die Schweiz künftig einen Vorteil haben, weil sie viele Skigebiete in den mittleren Höhen zwischen 1500 und 2500 Metern über Meer hat. Diese sind zwar nicht so einfach zugänglich wie viele Trainingsgebiete in Österreich, die bequem mit dem Auto vom Tal aus erreichbar sind, dafür schneesicherer. Der Österreichische Skiverband (ÖSV) hat seine Trainingsplanung bereits angepasst und mehr in den Frühling verlegt, weil die Bedingungen auf den heimischen Gletschern dann besser sind als im Herbst.

Abfahrten in Zermatt/Cervinia werden wohl gestrichen

Auch die Wettkampfplanung steht im Fokus. Der Winter verschiebt sich immer mehr nach hinten, das muss auch im Rennkalender Niederschlag finden. Sölden wäre bereit, seine Saisonauftakt-Rennen in den November zu schieben. Die mögliche Verlegung wurde aber lange blockiert; erst seit dem letzten Tag der Saison steht fest, dass die Abfahrten in Zermatt/Cervinia nach acht Absagen bei acht Versuchen nächsten Winter wohl nicht mehr im Kalender stehen werden.

Der Rennkalender ist auch beim zweiten gewichtigen Thema mitentscheidend, bei den Dutzenden Verletzungen dieser Saison, die auch zahlreiche Spitzenfahrerinnen und -fahrer betrafen.

Für den ÖSV-Geschäftsführer Christian Scherer ist nicht auszuschliessen, dass einige der Verletzungen auf mangelnde Speed-Trainingskilometer zurückzuführen sind. Früher trainierten die Abfahrerinnen und Abfahrer im November in Nordamerika. Mit den geplanten Rennen in Zermatt fiel dies im Herbst 2023 weg, was besonders aufgrund der wetterbedingt schlechten Sommertrainings in Südamerika ins Gewicht fiel.

Die Bedeutung schneesicherer Trainingspisten in Europa wird in Zukunft zunehmen. Das Schweizer Team fand im vergangenen Spätsommer perfekte Bedingungen in Zermatt vor, während die Österreicher nur auf einem Streifen Riesenslalom trainieren durften – die Gletscher in Österreich waren unbefahrbar.

Die Suche nach dem Muster in der Verletzungsmisere

Nebst dem Kalender versucht man den Verletzungen mit Regeln und dem Vorantreiben der Forschung entgegenzuwirken. Ab kommender Saison ist das Tragen eines Airbags im Weltcup Pflicht. Nach der schweren Schnittverletzung von Aleksander Kilde in Wengen wird auch das obligatorische Tragen schnittfester Unterwäsche diskutiert, freiwillig tragen sie schon zahlreiche Fahrer. Weitere Ideen betreffen die Weiterentwicklung von Rennanzügen, Ski- und Pistenpräparierung – und vor allem einer «intelligenten» Bindung, die im richtigen Moment aufgehen soll.

Um nützliche Massnahmen zu ergreifen, muss man das Problem kennen. Das Muster verstehen, das den Verletzungen zugrunde liegt, sofern es einen gemeinsamen Nenner gibt. Ist das aggressive Material das Problem? Oder die Pisten? Oder die Entwicklung der Athletinnen? Hier investiert Swiss Ski noch mehr Geld in die Datenanalyse und stellt die Resultate auch der FIS und den anderen Verbänden zur Verfügung.

Die Knieverletzungen von Suter, Flury und Hählen sowie der Fussbruch von Holdener waren mehr als nur ein Wermutstropfen der Schweizer Saison. Sie stehen auch dafür, dass jeder Erfolg nur eine Momentaufnahme ist.

Es mag für die Zukunft des Skisports keine simplen Lösungen geben. Dass Swiss Ski die Probleme aktiv, weitsichtig und mit genügend Mitteln angeht, spricht aber dafür, dass der Verband für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet ist. Und die gegenwärtige Vorreiterrolle nicht mehr so schnell aufgeben wird.

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