MATTHIAS KYBURZ WECHSELTE DER FAMILIE ZULIEBE DEN SPORT

Eigentlich steigt er nur der Familie zuliebe kurz vom Orientierungslauf auf Marathon um. Doch dann rennt Matthias Kyburz bei seinem Debüt in Paris der Elite um die Ohren. Und wird nun zu seinem zweiten Rennen über die 42,195 Kilometer wohl erneut an der Seine starten – bei Olympia.

Der letzte Kilometer. Die Beine brennen. Der Blick auf die Uhr. Die innere Wärme, die Freude, die sich im ganzen Körper ausbreitet. Die Gewissheit: Es reicht. Das Ziel. Im Hintergrund der Arc de Triomphe. Es kribbelt im Magen. Die Tafel leuchtet auf. «2:07:44»! Es ist geschafft. Der Traum von Olympia wird wohl wahr.

Matthias Kyburz gelingt am vergangenen Sonntag ein Meisterstück. Es ist ein Lauf für die Geschichtsbücher. Der achtfache Weltmeister im Orientierungslauf holt in Paris voraussichtlich das Olympia-Ticket im Marathon. Notabene in seinem ersten Rennen über die 42'195 Kilometer überhaupt. Das beste Debüt eines Schweizers der Geschichte, die drittbeste Marathon-Zeit, die ein Schweizer je gelaufen ist – nach Tadesse Abraham (41) und Altmeister Viktor Röthlin (49). Ein Husarenritt, den der 34-jährige gebürtige Aargauer auch jetzt, ein paar Tage später, noch nicht richtig fassen kann.

Rückblick, Anfang Jahr: Matthias Kyburz’ Frau Sarina (32) ist hochschwanger. Im Januar soll Töchterchen Aino das Licht der Welt erblicken. OL-Gesamtweltcupsieger Kyburz weiss, er möchte die erste Zeit nach der Geburt mit seiner Familie verbringen. Das OL-Training findet aber oft im Ausland statt. So beschliesst er, einen lang gehegten Traum zu verwirklichen und seinen ersten Marathon in Angriff zu nehmen. Dadurch kann er zu Hause trainieren. «An eine Olympia-Limite habe ich aber keinen Augenblick gedacht», erzählt er grinsend im Wintergarten seines neuen Hauses in Belp BE.

Von seinem Plan erzählt er einem Freund, der für eine Firma arbeitet, in der auch Marathon-Legende Viktor Röthlin als Coach engagiert ist. Eines Tages klingelt Kyburz’ Telefon. «Viktor war dran und sagte: ‹Du willst also um die Olympia-Limite laufen.›» Kyburz ist ziemlich baff. Dass Röthlin ihn trainieren solle, war zwar abgesprochen. «Aber von der Olympia-Limite habe ich da zum ersten Mal gehört», erinnert er sich. «Doch ich dachte, warum nicht?» Gesagt, getan. Röthlin stellt Kyburz einen Trainingsplan zusammen.

Die Vorbereitung läuft gut. Kyburz hält die Pläne ein. Sein Körper gewöhnt sich rasch an den neuen, harten Untergrund. «Ich bin seit 14 Jahren Spitzensportler», sagt er. «Ich wusste, ich bin schnell und kann beissen. Es ging nur darum, diese Schnelligkeit über 42'195 Kilometer zu halten.»

Matthias Kyburz' Familie war in Paris mit dabei

Am Freitag vor dem Marathon reist er mit dem Zug in die französische Hauptstadt. «Ich habe bewusst Paris gewählt. Einerseits, weil dieser Marathon vom Termin her so lag, dass ich in die OL-Saison hätte einsteigen können, wenn ich die Olympia-Limite nicht geschafft hätte. Andererseits, weil ich einfach eine grossartige Location für mein Debüt wollte. Was gibt es Schöneres, als die Champs-Élysées entlangzulaufen?» Begleitet wird er von Ehefrau Sarina, Töchterchen Aino, Eltern, Schwiegereltern, einigen OL-Kollegen und seinem Fanklub.

«Die Kollegen haben sich ein ausgeklügeltes System ausgedacht mit Metro und Rennen, um Matthias alle paar Kilometer anzufeuern», erzählt Sarina. Sie hat dem verrückten Plan ihres Mannes nur zu gern zugestimmt. «Mir ist es wichtig, ihn im Spitzensport zu unterstützen.» Auch Sarina Kyburz ist ehemalige OL-Läuferin, über den Sport hat sich das Paar kennengelernt. «Das Verständnis war immer da.»

Kyburz erinnert sich: «Am Start fühlte ich mich fit und locker.» Auf Vermittlung von Röthlin stellt ihm die Organisation zwei Pacemaker zur Seite. «Diese haben einen super Job gemacht. Ich konnte mich anhängen und mitlaufen.» Nach 30 Kilometern steigen die Tempomacher aus. Kyburz ist auf sich allein gestellt. Er zieht durch, es reicht.

Matthias Kyburz zwischen Familie und Sport

Nun sitzt Kyburz in seinem Wintergarten. Das Haus haben Sarina und er im vergangenen November bezogen. «Die Wohnung in Bern war zu klein für eine Familie», erzählt Sarina, die nach ihrem Mutterschaftsurlaub wieder Teilzeit als Ernährungsberaterin arbeiten wird. Eine Woche vor dem Olympia-Marathon soll es losgehen. «Das müssen wir wohl neu planen», sagt sie und lacht. Matthias Kyburz realisiert erst jetzt so langsam, was ihm da gelungen ist. «Auch wenn ich nie von Olympia geträumt habe», sinniert er, «will ich jetzt in Paris an der Startlinie stehen.»

Noch muss er selektioniert werden. Die Strecke ist eine andere als letzten Sonntag, hat am Ende eine heftige Steigung. «Das kommt mir entgegen.» Medaillenträume hat Kyburz aber keine. Das Podest peilt er im kommenden Jahr an, wenn er im Orientierungslauf noch einmal voll angreifen will. Der WM-Titel über die Langdistanz fehlt nämlich noch in seinem Palmarès. Und diesen möchte der studierte Biologe, der Teilzeit im Nachhaltigkeitsprogramm der SBB arbeitet, gern noch mitnehmen.

Vorerst läuft er weiter auf Asphalt. Und im August fährt er wohl wieder nach Paris. Im Zug. Zu seinem zweiten Marathon. Bei Olympia. «À cœur vaillant rien d’impossible» – für ein tapferes Herz ist nichts unmöglich.

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