SKI-ASS SPRACH AUCH MIT FIS-BOSS ELIASCH: «SO WIE JETZT WIRD DER SKIRENNSPORT NICHT MEHR ALLZU LANGE WEITERGEHEN»

Michelle Gisin (30) macht sich Sorgen. Wie geht es in ihrem Sport weiter? Sie ist überzeugt, dass es ein Umdenken braucht. Die zweifache Olympiasiegerin kritisiert nicht nur, sondern liefert konkrete Ideen.

Michelle Gisin, der Schnee fällt immer später. Sollte auch der Saisonstart in Sölden weiter nach hinten verschoben werden? Michelle Gisin: Ich finde schon. Dafür könnten wir länger fahren, vielleicht sogar bis in den April hinein – auch wenn es dort die grössere TV-Konkurrenz mit anderen Sportarten gibt.

Ex-Slalom-Ass Felix Neureuther plädiert auch dafür. Er findet, man könnte in Sölden, statt nur Riesenslaloms zu fahren, auch gleich noch je einen Slalom einbauen.Eine gute Idee. Wo der Start und das Ziel sind, ist eine Herausforderung, aber wir sind ja sowieso schon dort, und so hätte man gleich zwei Rennen im Kasten. Gurgl war ebenfalls eine sehr gute Option.

Für die Ski-Industrie ist der frühe Saisonstart wichtig, um die Verkäufe anzukurbeln.Das höre ich immer wieder. Aber letztlich ist es doch so: Das Klima verändert sich, der Winter verschiebt sich nach hinten. Ich finde, wir müssen uns anpassen – ob es uns passt oder nicht. Und wenn wir die Industrie tatsächlich so stark beeinflussen, liegt die Verantwortung noch mehr bei uns.

Steht der Skirennsport am Scheideweg?So wie es jetzt ist, wird es auch meiner Sicht nicht mehr allzu lange weitergehen.

 

Die Kritik an FIS, der überladene und schlechte Rennkalender, die Fluor-Diskussion und die vielen Verletzungen waren in dieser Saison keine gute Werbung.Es wurde auch viel Effekthascherei betrieben. Aber es ist auch indiskutabel, dass es viel Negatives gab. Mir tut das weh in der Seele, denn ich habe eine riesige Leidenschaft für diesen Sport. Ich will, dass er möglichst lange überlebt.

14 Rennen wurden in dieser Saison ersatzlos gestrichen. 8 bei den Männern, 6 bei den Frauen. Das ist nicht nur Pech, oder?Nein, es wird im Moment immer schwieriger, den Kalender genau so, wie er war, beizubehalten. In den letzten Jahren wurde er immer mehr gefüllt, man hat kaum mehr Ausweichmöglichkeiten, weil sowieso oft drei Rennen pro Woche geplant sind. Und dies ohne Grossanlass.

Das Wochenende in Cortina war eine Katastrophe: Corinne Suter, Mikaela Shiffrin und Valérie Grenier verletzten sich dort schwer. Auch Sie hat es erwischt. Sie übten danach Kritik an der FIS – wurde Sie erhört?Ich habe die FIS nicht kritisiert, sondern gesagt, man müsse das Ganze genau analysieren. Es war konstruktiv gemeint.

Sie sagten: «So viele Verletzte – das kann es nicht sein!»Dabei bleibe ich. Wir hatten in 3 Cortina-Tagen 33 Stürze – das darf nicht passieren, und man muss sich überlegen, wie es dazu kommen konnte.

Haben Sie mit FIS-Verantwortlichen gesprochen?Ja. Und da ist man auch über die Bücher gegangen. In Cortina kamen viele Faktoren zusammen. Ein Problem war, dass die Piste vom Mittwoch auf den Freitag nochmals viel schneller wurde und die Wellen je nach Fahrtrichtung zu weiten Sprüngen wurden. Wenn man im Flachen landet, kommt sehr viel Druck zusammen. Erst recht, wenn danach gleich die nächste Kurve startet. Man hatte keinerlei Marge für Fehler und konnte an gewissen Stellen nicht voll durchziehen. Dies ist sehr schwer einzuschätzen, wenn man sich auf sein Rennen konzentriert.

Die hohe Belastung wegen des eng getakteten Kalenders war auch ein heisses Thema.Es ist sicher alles an der Grenze – oder darüber. Aber auch wir Athleten müssen uns an der eigenen Nase nehmen.

Inwiefern?In den letzten Jahren wird es immer schwieriger, gute Trainingsverhältnisse zu finden. Ich spüre oft eine Verunsicherung bei vielen Athletinnen, wenn die Trainings nicht optimal waren. Als Allrounderin fahre ich am meisten Weltcuprennen. Oft scheint es mir aber, dass mein Winter nicht viel anstrengender ist als derjenige der reinen Technikerinnen oder Speed-Fahrerinnen. Während ich Rennen fahre, trainieren die anderen meistens. Die Regenerationszeit wird oft ein wenig unterschätzt.

 

Es gab in diesem Winter keinen Grossanlass. Da hätte eigentlich alles entspannter sein sollen, oder?Ein Winter ohne Olympische Spiele oder WM ist anstrengender, so verrückt es tönt. Denn mit einem Grossanlass wird die Saison in drei Phasen unterteilt. So ist eine Woche nach der anderen dasselbe Programm, sehr viel Reiserei, dies ist mental sehr intensiv.

Die Fahrerinnen könnten auch auf Rennen verzichten, wenn sie müde sind.Dieses Argument hört man immer wieder. Aber im Skirennsport geht es für die allermeisten Athletinnen immer um wichtige Punkte. Sie beeinflussen die Weltcupwertungen, deinen Kaderstatus, dein Leben. Es ist für mich zu einfach, wenn man sagt: Ihr müsst ja nicht überall fahren. Wenn man ein Wochenende auslässt und danach werden Rennen abgesagt, kann es sein, dass man ein Viertel der Rennen in einer Disziplin verpasst. Dies kann sich kaum ein Athlet erlauben.

Was für Veränderungen im Ski-Zirkus schlagen Sie sonst noch vor?Ich finde, wir sollten wie im Tennis beginnen, die Rennen zu kategorisieren. So wie es dort Grand Slams, 1000er- und 500er-Turniere gibt. Bei einigen Rennen würde man dann für einen Sieg mehr Punkte erhalten als bei den anderen. Damit sinkt der Druck, angeschlagen in ein Rennen zu starten, und die Spezialisten kommen trotzdem auf genügend Wettkämpfe.

Welches wären die Grand-Slam-Rennen?Man müsste verschiedene Faktoren berücksichtigen. Wenn man es durchdenkt, kriegt man relativ schnell pro Disziplin vier Rennen zusammen. Natürlich müssten sie in allen Ländern verteilt sein. Es wäre nicht einfach, aber es scheint möglich. Wenn man neben einem «Grand Slam Slalom» noch einen Riesenslalom macht, der in der zweiten Punktekategorie ist, werden die besten Athleten trotzdem am Start sein. Vor allem, wenn die Rennen gut organisiert sind.

Interessieren dann die anderen Rennen überhaupt noch?Skirennen interessieren doch immer (schmunzelt)! Im Ernst: Die zweite Stufe wäre mit dem aktuellen Wert eines Weltcuprennens gleichzusetzen. Ich denke nicht, dass es für die Zuschauer vor Ort einen grossen Unterschied macht. Diese Rennen sind immer noch wichtig, die vier grossen sollten es einfach noch ein bisschen mehr sein.

Würde es den Europacup dann noch geben?Ja, aber auch in einer anderen Form. Dies wäre die dritte Punktekategorie, wie ein ATP 500. Man würde den Übergang von Europacup zum Weltcup fliessender machen. Und die Spezialisten könnten besser im Rennmodus bleiben und wichtige Punkte sammeln.

Haben Sie Ihre Idee mit FIS-Präsident Johan Eliasch besprochen?Ja.

Und?Er hat mir zugehört.

Tönt nicht sehr euphorisch.Er wird mit vielen Dingen konfrontiert.

Aber?Vielleicht sind meine Vorstellungen nicht umsetzbar, womöglich sind sie naiv und zu radikal. Daraus könnten jedoch andere spannende Ideen entstehen. Für mich braucht der Skisport eine Tabula rasa, ein grosses Umdenken. FIS, Sponsoren, Veranstalter, Verbände, Athleten, TV-Anstalten – alle sollten gemeinsam an einem Tisch sitzen und über die Zukunft unseres Sports diskutieren. Aber das ist wohl ein Wunschdenken meinerseits.

Bleibt also alles beim Alten?Das Umdenken wird irgendwann stattfinden. Allerdings nur, weil wir wegen der klimatischen Veränderung dazu gezwungen werden.

Ihre Prognose: Wo steht der Skirennsport in fünf Jahren?Hoffentlich an einem guten Punkt. Ich liebe diesen Sport über alles. Und auch wenn ich dann nicht mehr fahren werde, bleibe ich immer Fan von ihm – daran wird sich nie etwas ändern.

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