DIE TEUERSTE SHOW DER GESCHICHTE ODER DIE VERREGNETE OLYMPISCHE MASSLOSIGKEIT

26. Juli 2024. Der Tag, an dem die Olympischen Spiele in Paris eröffnet worden sind. Der Tag des charmanten Grössenwahns. Der Tag der verregneten Masslosigkeit. Der Tag auch, der uns den wohl dramatischsten Auftritt einer Sängerin beschert hat: Céline Dion auf dem Eiffelturm.

Wir haben die teuerste, die opulenteste Show der Weltgeschichte gesehen. Allein die Auftritte von Céline Dion und Lady Gaga dürften über drei Millionen Euro gekostet haben – mehr als die gesamten Spiele von 1924 in Paris.

Im 21. Jahrhundert sind die olympischen Eröffnungsfeierlichkeiten für die TV-Anstalten noch wichtiger als die einzelnen Wettkämpfe. Die weltweiten TV-Quoten werden in den nächsten Tagen bei keinem der nun folgenden Wettkämpfe noch einmal erreicht werden. In den gleichen Sphären der globalen Aufmerksamkeit mit mehr als einer Milliarde Menschen vor den TV-Geräten bewegt sich nur noch der Final einer Fussball-WM.

Wir haben einen neuen, faszinierenden Höhepunkt dieser Entwicklung weg vom Sport und hin zum Showbusiness gesehen. Zum ersten Mal wird nicht in einem Stadion gefeiert. Stadien hatten alle bisherigen Veranstalter seit 1896. Aber nur Frankreich hat ein Paris, und so ist die ultimative Steigerung logisch: Wir verlassen die Arena und ziehen im Triumphzug durch die Stadt. Nicht über die Boulevards. Sondern ab 19.43 Uhr über die Gewässer der Seine. Sechs Kilometer weit. Von der Pont d’Austerlitz während 45 Minuten bis zur Pont d’Jena beim Eiffelturm schaukeln in 85 Booten rund 7000 der insgesamt 10'500 Athletinnen und Athleten. Weil es 206 Delegationen sind, müssen sich viele ein Boot teilen. Beispielsweise Mexiko, Mikronesien und die Republik Moldau. Die Schweiz hat ein Boot für sich allein. Wir sind ein Sonderfall.

Die Ufer säumen gut und gerne 300'000 Menschen. Der Regen lässt nur kurz nach 22 Uhr ein wenig nach. Wasser unten, Wasser oben und die Nacht senkt sich herab. Aber soweit ersichtlich, ist nichts und niemand ins Wasser gefallen.

Die Winterspiele 2014 in Sotschi knackten die 100-Millionen-Dollar-Schallmauer für eine Eröffnungsfeier. Nun gibt es einen neuen Rekord. Schon wegen des pharaonischen Sicherheitsaufwandes – 45'000 Sicherheitskräfte, geschlossener Luftraum – dürfte die Eröffnungsfeier in Paris mehr als 200 Millionen kosten.

Sicherheit? Paris war sicher. Aber mit mehreren Brandanschlägen sind Teile des Schnellzugnetzes draussen im Land lahmgelegt worden. Premierminister Gabriel Attal sprach von «koordinierten Sabotageakten». Die Auswirkungen seien massiv und schwerwiegend. Rund 800'000 Reisende dürften betroffen sein. Die Welt ist nicht einmal mehr im Gastgeberland am Tage der olympischen Eröffnungsfeierlichkeiten ein sicherer Ort.

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Auftritte von Lady Gaga, der brachialen Heavy-Metal-Band Gojira oder der Opernsängerin Marina Viotti. Das Geläut der Glocken von Notre-Dame. Chorgesang und Tanzeinlagen und am Ende der Auftritt von Céline Dion. Olympia wie es rockt und singt und tanzt. Sichtbare Zeichen, wie weit sich das olympische Eröffnungsspektakel vom Sport entfernt hat.

Noch 1996 war mit Muhammad Ali ein Sport-Weltstar im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit, als er, von schwerer Krankheit gezeichnet, mit zitternden Händen das olympische Feuer entzündete. Niemand hat ihm die Show gestohlen.

Der Fussball-General war besser …

Bei Eröffnungsfeierlichkeiten stehen für einen Wimpernschlag der Geschichte die Funktionäre und nicht die Stars im globalen Scheinwerferlicht. Also halten sie Reden. Gianni Infantino gebührt die Ehre der besten – oder zumindest knackigsten – Eröffnungsrede. Unser FIFA-Präsident sagte zur Eröffnung der letzten WM in Katar: «Heute fühle ich mich katarisch, heute fühle ich mich arabisch, heute fühle ich mich afrikanisch, heute fühle ich mich schwul, heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Gastarbeiter.»

IOC-Boss Thomas Bach gebricht es auch nicht an Eitelkeit. Er hat soeben an ausgewählte Bewunderer ein Buch mit seinen gesammelten Reden, dick wie eine Bibel, zukommen lassen. Logisch also, dass er gestern eine Rede gehalten hat. Sie wird nicht als eine der grossen Ansprachen in die Sport-Geschichte eingehen.

Der IOC-Vorsitzende ist sichtlich bemüht, ja niemanden gegen sich aufzubringen. Ob er am Ende gar eine Träne aus den Augenwinkeln gewischt hat? Er dankt ausführlich allen, von Präsident Emmanuel Macron abwärts bis zu den Volontären, und verspricht: «Wir alle werden Olympische Spiele erleben, die urbaner, jünger und nachhaltiger sind – die ersten Olympischen Spiele mit völliger Geschlechterparität auf dem Spielfeld.» Und dann wird er gar poetisch, als habe er zu viel Victor Hugo gelesen. «Paris. Es gibt keinen besseren Ort, um die Magie der Olympischen Spiele mit der Welt zu teilen. Paris, der Geburtsort unseres Gründers Pierre de Coubertin, dem wir alles verdanken. Paris, diese einladende Stadt des Lichts, wo er die Olympischen Spiele der Moderne geschaffen hat. Paris, die Stadt der Liebe. Danke Frankreich für diesen magischen Empfang.» Ach, dieser Mann soll ein Machiavellist sein? Von Macht besessen? Eher ein Romantiker, ganz im Sinne von Pierre de Coubertin – oder ein olympischer Heuchler.

Gianni Infantino kann besser reden. Er verströmte bei seiner WM-Eröffnungsrede mit jedem Wort mehr Charisma als Thomas Bach mit seiner gestrigen Ansprache. Ist vielleicht Gianni Infantino mehr Machiavellist als Romantiker?

Inzwischen ist das popkulturelle Erbe der Nation zu einem zentralen Element geworden. Auftritte der erfolgreichsten heimischen Popstars sind ein fester Bestandteil der olympischen Eröffnungsfeiern geworden. Aber noch nie in einem solchen Umfang wie nun in Paris.

Die Show kehrt in der Schlussphase zwar zu den olympischen Ursprüngen zurück. Eine ganze Reihe von Sportstars geben sich die olympische Fackel in die Hand. Unter anderem Carl Lewis, Serena Williams, Zinédine Zidane, Rafael Nadal. Und schliesslich übergibt Charles Coste, mit 100 Jahren der älteste noch lebende Olympiasieger, im Rollstuhl sitzend die Fackel an Teddy Riner und Marie-José Pérec. Sie entzünden die olympische Flamme, die nun bis zum Ende der Spiele brennen wird.

Teddy Riner ist eine französische Judo-Legende. Bei Olympischen Spielen gewann er insgesamt dreimal Gold und zweimal Bronze. Elfmal wurde er Weltmeister, fünfmal Europameister. Marie-José Pérec gewann über 400 Meter und 200 Meter in Barcelona 1992 und Atlanta 1996 insgesamt dreimal Gold.

Aber den Schlusspunkt setzt nicht ein Sportler oder eine Sportlerin. Der grösste, der dramatischste, der finale Auftritt gehört eine halbe Stunde vor Mitternacht Céline Dion. Sie singt auf dem Eiffelturm.

Diese Eröffnungsfeier war wie ein schöner, berührender, aufwühlender, opulent besetzter Film, der an Ort und Stelle live produziert worden ist. Ohne die Möglichkeit, die Bilder nachträglich zu bearbeiten. Ein tiefgreifendes globales Schauspiel, aufgeladen mit Pathos und Nationalismus und mit einem wunderschönen Schlusspunkt mit Céline Dion.

Noch nie in der Geschichte sind im Rahmen einer einzigen, fast fünfstündigen Show so viele berühmte Menschen aufgetreten. In der ganzen Pracht und in allen Facetten nur im Fernsehen zu erfassen. Im Vergleich zu Paris 2024 schrumpfen die Eröffnungsfeiern des letzten Jahrhunderts zu Kindergeburtstagen.

Kann das Spektakel von Paris 2024 in vier Jahren 2028 in Los Angeles vor den Toren Hollywoods übertroffen werden? Wahrscheinlich nicht. Olympische Jünger werden rühmen: Der 26. Juli war der Tag, an dem das olympische Schauspiel in neue Sphären aufgestiegen ist und einen einsamen Höhepunkt erreicht hat. Kritiker hingegen mahnen: Der 26. Juli geht als Tag des charmanten Grössenwahns und der verregneten Masslosigkeit à la France in die olympische Geschichte ein.

Einst baute Frankreichs König mit einem Milliardenaufwand Versailles. Heute wird mit dem Segen des Präsidenten die teuerste Bootsfahrt der Geschichte organisiert. Eine olympische Show auf dem Wasser – Emmanuel Macrons Bewunderer können sagen, er sei der erste Mann seit Jesus, der übers Wasser geschritten ist. Was seinem Selbstverständnis nahekommen dürfte.

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