EIN LEBEN WIE IM ALBTRAUM – WIEDER WIRD JAKOB INGEBRIGTSEN üBERSPURTET

Leider bekommt man nur noch selten Rennen zu sehen wie diesen 1500-Meter-Lauf in Zürich. Vier Athleten hatten sich an den Sommerspielen in Paris einen grossartigen Kampf um die Medaillen geliefert, und alle vier waren wieder da für die Revanche. Wichtig war diese vor allem für den grossen Geschlagenen von Paris: Jakob Ingebrigtsen war im Olympiafinal quasi als Hase voraus gerannt, ehe er auf den vierten Rang durchgereicht wurde.

In Zürich hatte er wie in der Diamond League üblich zwei Tempomacher vor sich, und in solchen Rennen ist der Norweger normalerweise eine Klasse für sich. Doch an diesem Abend war er offensichtlich nicht im Vollbesitz der Kräfte. Auf der Zielgeraden musste er sich vom Amerikaner Yared Nuguse überspurten lassen, dem Mann, der ihm als Olympiadritter die Medaille weggeschnappt hatte. Die Siegerzeit lag mit 3:29,21 Minuten deutlich über den Standards, die Ingebrigtsen zuletzt gesetzt hatte.

Ingebrigtsen bleibt nun noch der Diamond-League-Final in Brüssel, um zu zeigen, dass er die wahre Nummer 1 auf dieser Distanz ist. Und als solche sieht er sich. Die 1500 m sind eine brutale Disziplin, die den Läufern alles abverlangt. Hicham El Guerrouj, um die Jahrtausendwende der König auf dieser Strecke, sagte stets, es brauche das Herz eines Soldaten, um über 1500 m bestehen zu können. Der Marokkaner dominierte die Disziplin und lief 1998 mit 3:26:00 einen der besten Weltrekorde in der Geschichte der Leichtathletik.

Vier Jahre lang schlafen unter dem Bild der Niederlage

Was El Guerrouj mit der besonderen Einstellung meint, lässt sich an ihm illustrieren. 1996 stürzte er im Olympiafinal. Er druckte ein Foto des Missgeschicks aus und hängte es über sein Bett. Vier Jahre lang, bis zu den Spielen von Sydney, sah er täglich dieses Bild. Noch Jahre später brach er in Tränen aus, wenn man ihn darauf ansprach.

El Guerrouj war ein Mann der markigen Worte. Nachdem er 2000 erneut am olympischen Traum zerbrochen war, sagte er vor den Spielen 2004 in Athen: «Wer mich hier schlagen will, muss nahe am Tod vorbeigehen, seine Lunge muss explodieren. Wenn es einen solchen Läufer gibt, werde ich ihm die Hand reichen und sagen: ‹Du bist ein grosser Champion.›» Der Marokkaner siegte, aber man kann die Aussage durchaus auf den Weltrekord übertragen: Es braucht einen wahrhaft grossen Champion, um ihn zu brechen.

Jakob Ingebrigtsen fehlt es sicherlich nicht am Selbstvertrauen, um von sich zu sagen, er sei ein solch grossartiger Läufer. Der Norweger wurde schon als Kind physiologisch vermessen und soll Werte aufgewiesen haben, wie man sie sonst nur bei viel älteren Athleten sieht. Er ist mit nunmehr 23 Jahren der herausragende Läufer und rannte kürzlich in Polen mit 7:17,55 über 3000 m einen Weltrekord der Extraklasse.

Doch schon ein Jahr zuvor hatte er deutlich gemacht, dass ihm einzelne Bestleistungen nicht genügen. Sein Ziel sei es, sämtliche Weltrekorde auf den Distanzen von 1500 m bis zum Marathon zu brechen. Er sprach dabei von zehn Bestzeiten, ohne diese konkret zu nennen. Geht man von Rennen unter freiem Himmel aus, wären das: 1500 m, 1 Meile, 2000 m, 3000 m, 2 Meilen, 5000 m, 10 000 m, Halbmarathon, Marathon – und 3000 m Steeple.

Man kann sich bei diversen Distanzen die Frage stellen, wie Ingebrigtsen auf die Idee kommt, ohne jede Grundlage von Rekorden zu sprechen. Der Marathon zum Beispiel stellt ganz andere Anforderungen als Bahnrennen, und der Rekord steht da bei 2:00:35. Will der Mann gleich auch noch die 2-Stunden-Barriere durchbrechen?

Aber noch verrückter scheint es, neben neun Flachrennen auch noch den Steeple-Lauf anzuvisieren. Doch Ingebrigtsen wies darauf hin, dass er in jungen Jahren über die Hindernisse gerannt sei. Als 16-Jähriger (!) lief er 8:26. Zum Vergleich: Der Schweizer Rekord steht seit 2001 bei 8:22,24. Auf die Frage, warum er sich solche wahnwitzigen Ziele setze, antwortete Ingebrigtsen: «Wenn Leute etwas können, glaube ich, dass ich es besser kann.» Das sei seine Denkweise, und sie helfe ihm, motiviert zu bleiben.

Hält man sich an die oben genannten Distanzen, so hat der Norweger inzwischen drei von zehn Rekorden geschafft: Er hält die Bestzeiten über 2000 m, 3000 m und zwei Meilen. Will er systematisch vorgehen, so sollte er nun die kürzeren Distanzen abhaken und mit zunehmendem Alter die Strecken verlängern. Der beste Rekord ist jener von El Guerrouj über 1500 m. Jener über die Meile, ebenfalls vom Marokkaner gehalten, gilt als etwas weniger hochklassig.

Jakob Ingebrigtsen läuft auch gegen seinen Vater Gjert

Angesichts der herkulischen Aufgabe, die Ingebrigtsen sich vorgenommen hat, stellt sich die Frage, was ihn eigentlich antreibe. Will er beweisen, dass er so aussergewöhnlich ist, wie es seine physiologischen Daten im Kindesalter erahnen liessen? Oder spielt er einfach mit den Medien, wenn er solche Ansagen macht? Wenn er etwas gefragt wird, lässt er sich stets ein wenig Bedenkzeit und spricht dann so unterkühlt, als wäre er ein Eisberg in der Polarnacht.

Mit ziemlicher Sicherheit geht es dem 23-Jährigen auch darum, sich zu beweisen, dass er alle Kraft aus sich schöpft. Jakob Ingebrigtsen wurde schon als kleiner Knirps von seinem Vater Gjert auf Leistung getrimmt, der als Autodidakt aus seiner Familie eine Art Leichtathletik-AG machte. Die Geschichte ging viral, die Ingebrigtsens wurden in Norwegen sogar mit einer TV-Serie gefeiert.

Doch das vermeintliche Märchen scheint sich mehr und mehr in eine Gruselgeschichte zu verwandeln. 2022 gab Jakob Ingebrigtsen bekannt, dass sein Vater nicht länger sein Trainer sei. 2023 erklärten er und seine Geschwister in einem offenen Brief, dass Gjert Ingebrigtsen sie über Jahre tyrannisiert und auch körperliche Gewalt ausgeübt habe. Die Polizei begann zu ermitteln.

Im Frühling wurde bekannt, dass nur einer der Fälle strafrechtlich relevant sei, für die anderen gebe es nicht genug Beweise, oder sie seien verjährt. Im darauf eröffneten Verfahren geht es mutmasslich um die 18-jährige Ingrid Ingebrigtsen, die inzwischen mit dem Spitzensport aufgehört hat. Doch Jakob hat erfolgreich Einspruch erhoben, sein Fall wird nun ebenfalls weiterverfolgt. Kurz nach dem Weltrekord über 3000 m wurde er in Oslo zwei Stunden lang von der Staatsanwaltschaft befragt.

2024-09-05T20:43:34Z dg43tfdfdgfd